Im September findet in Braunschweig der erste Social Startup Day des Landes Niedersachsen statt. Die Leuchtturmveranstaltung soll die Wichtigkeit von Social Entrepreneurship – Unternehmen, die sich für einen positiven Wandel der Gesellschaft, die Lösung sozialer Probleme oder für die Umwelt einsetzen – unterstreichen und die Sichtbarkeit sowie nachhaltige Verankerung in Niedersachsen fördern. Die Eröffnungskeynote hält Prof. Günter Faltin, Urvater des Entrepreneurship-Gedankens als kreativen Akt. Im Vorfeld zur Veranstaltung hatten wir die Gelegenheit, ihn und Samir Roshandel, startup.niedersachsen-Themenmanager für Entrepreneurship Education und Social Innovation, zu interviewen. Wir sprachen über eine neue Corporate Social Responsibility, über Glück, Ideenkonzepte und die Wichtigkeit von Startups, die daraus hervorgehen.

Ein Vordenker von Corporate Social Responsibility und New Work war der berühmte Fritjof Bergmann. Auf der Website Ihrer Stiftung Entrepreneurship gibt es ein Video mit ihm. Was verbindet Sie?

Prof. Günter Faltin: Fritjof war ein Freund von mir. Ich teile den Kern seiner Gedanken und formuliere es so: Das, was wir tun, sollte stimmig zu unserer Person sein. Jeder sollte vom eigenen Potenzial, seinen Neigungen, Erfahrungen und Erlebtem profitieren können. Eine Unternehmensgründung muss stimmig zum Markt sein, aber möglichst auch stimmig zur eigenen Person und den eigenen Talenten.

Wie finde ich heraus, was stimmig ist zu meiner Person? Welche Gemeinsamkeit steht vor der Klammer?

Prof. Günter Faltin: Oft ist es das, was einem leicht fällt. Ich erlebe immer wieder, dass viele Menschen darauf nicht vertrauen und suchen nach dem Motto „Das fällt doch anderen genauso leicht wie mir und ist nichts Besonderes“. Das ist ein Trugschluss. Man sollte auf Eigenschaften setzen, die einem leicht fallen und an den eigenen Stärken arbeiten, statt an den Schwächen.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang Startups?

Prof. Günter Faltin: Sie sind ein gutes Feld, um sich auszuprobieren und die eigenen Wertvorstellungen einzubringen. Da Corporate Social Responsibility für Unternehmen in Zukunft immer wichtiger werden wird, sind die Chancen dafür ausgezeichnet.

Wie sieht die deutsche Startup Kultur im Vergleich zu der in den USA aus?

Samir Roshandel: Die USA ist uns Jahrzehnte voraus im Bereich Unternehmensgründung. Die ersten Lehrstühle dazu wurden dort in den sechziger Jahren gegründet und erst 1998 an einer deutschen Hochschule hier. Während dieser Zeit, mit knapp 40 Jahren Vorsprung, hat sich in den USA ein anderes Mindset entwickelt als in Deutschland. Wir sollten in Deutschland ebenfalls das Thema Unternehmertum als eine selbstverständliche Option der Berufswahl ermöglichen. Dazu zählt auch das Mindset, dass Scheitern ein Bestandteil des Erfolgs ist.

Prof. Günter Faltin: Gutes Stichwort: Die USA haben uns vielleicht voraus, dass die Menschen dort gelernt haben, sich auszuprobieren, selbst etwas zu unternehmen, aktiv zu werden und nicht auf den Staat zu warten. Sie messen Erfolg allerdings in Umsatz und Gewinn. In Europa hingegen ist der Gemeinsinn stärker ausgeprägt. Punkt eins, wir brauchen also eine eigene Startup-Kultur, die diesem Wert stärker entspricht. Ein zweiter Punkt ist unsere Haltung, dass der Staat dafür zuständig ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Es fällt uns schwerer als in den Vereinigten Staaten, selbst initiativ zu werden. Uns hemmen oft noch Bilder des Frühkapitalismus, wenn von Unternehmertum die Rede ist. Unternehmerisches Denken und Handeln darf nicht durch diese überholten Vorstellungen beeinträchtigt werden. Social Entrepreneurship kann hier eine entscheidende Brücke bilden, denn es geht verstärkt darum, soziale Ziele zu erreichen. Ein dritter Punkt ist die Rolle von Frauen als Gründerinnen – Frauen tun sich schwerer mit der Chefinnen-Rolle, mit der Durchsetzung von Zielen, was ja oft mit Konflikt und Kampf einhergeht.

Eine ihrer Thesen heißt „Kopf schlägt Kapital“, dabei kauft doch meistens eher Kapital die Köpfe, oder?

Prof. Günter Faltin: Ja, und oft sogar die besten Köpfe – aber meist nicht für lange Zeit, denn dann springen die Besten wieder ab. Gute Köpfe haben professionelle Standards und das entsprechende Selbstvertrauen, sie lassen sich nicht für schlechte Produkte oder Dienstleistungen einfangen und wenn, nur für eine gewisse Zeit. Sie wollen ihre eigenen Zeichen setzen auf ihrem Fachgebiet.

Andere Zeichen setzen, wie erreichen wir das?

Prof. Günter Faltin: Ich spreche hier gerne vom „Berlin Way of Entrepreneurship“ im Kontrast zur Silicon Valley Kultur. Dieser Weg nimmt stärker auch Kunst, Design und Ästhetik mit ins Visier. Berlin ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine vitale Kunst- und Lifestylescene Menschen anzieht, die auch für Neugründungen aufgeschlossen sind. Alles, was die Welt schöner und besser macht, ist gut. Dabei sind feinfühligere Maßstäbe gefragt, das spüren wir doch immer stärker.

Samir Roshandel: Ich habe öfter das Silicon Valley besucht und dabei viele Führungskräfte von Unternehmen erlebt. Die meisten sind deutsch. Sie haben das Ökosystem dort mit gestaltet und sehen mit dem Blick von außen auf Deutschland. Für sie ist die „Deutsche Ingenieurskunst“ das Alleinstellungsmerkmal, auf das wir bauen können.

Prof. Günter Faltin: Ingenieurskunst ist gut und wichtig, aber Deutschland kann noch mehr. Ich war sehr früh in meiner beruflichen Laufzeit am Babson College in Boston, das in den 90er-Jahren in den USA führend auf dem Gebiet des Entrepreneurship Education war. Die Meinung war damals schon, dass wir weg vom Dinosaurier-Kapitalismus müssten, der nur in Umsatz- und Gewinnkategorien denkt. Wir brauchen eine Ökonomie, die nicht darauf abzielt, immer wieder neue Bedürfnisse herauszukitzeln und damit den Planeten zu überfordert. Wir leben hier im Weltmaßstab betrachtet, in großem Luxus, aber schätzen es gar nicht, denn wir sind im Hamsterrad immer unterwegs auf der Suche nach neuen Sensationen. Die Frage, die zählt, ist doch, wie wir es schaffen, ein geglücktes und zufriedenes Leben für alle zu führen. Wir brauchen mehr Startups, die gerade hierzu Ideen entwickeln.

Startups für ein beglückendes Leben – wie passt das zum strikten Businessplan, der gefordert wird, um gefördert zu werden?

Prof. Günter Faltin: Die Forderung nach einem Businessplan halte ich für sehr oberflächlich. Er ist meist schon veraltet, wenn er aus dem Drucker kommt. Ein Businessplan ist ein Bündel von Annahmen, mehr nicht. Es sind Annahmen – dass das Produkt gebraucht und gekauft wird, dass Preis und Qualität stimmen, Design und Vertriebsweg erfolgreich sein werden. Das alles kann ein Businessplan nicht wirklich beantworten. Diese Annahmen werden nicht dadurch realistischer, wenn sie schön aufgeschrieben und durch hübsche Grafiken unterlegt werden. Das Einzige, was hilft, ist rauszugehen in den Markt und zu testen. Und das am besten, bevor man gründet. Deshalb muss man eine Gründung sehr gut vorbereiten. Dazu gehört ein möglichst umfassender proof of concept, nicht ein herkömmlicher Businessplan.

Samir Roshandel: Ich halte es für ein deutsches Phänomen, das mehr auf den Geschäftsplan als auf Menschen fixiert ist. Der Businessplan ist lediglich zur Rechtfertigung da.

Prof. Günter Faltin: Eben – meines Erachtens werden solche Planungen viel tragfähiger, indem man potenzielle Kunden befragt, ausprobiert, Anpassungen vornimmt, so lange, bis es gutes Feedback gibt. Also so frühzeitig wie möglich zu testen beginnt, was funktioniert – das ist der richtige Weg.

Stichwort: „Was geht“, in Deutschland geht viel, aber sind wir glücklich?

Samir Roshandel: Deutschland lebt im Wohlstand, doch die Gesellschaft scheint nicht so glücklich zu sein. Der Glücksindikator ist hierzulande nicht allzu hoch. Würde der viel größere ärmere Teil der Weltbevölkerung von Harz 4 leben können, wäre das Luxus.

Prof. Günter Faltin: Ich lebte lange Zeit in Asien. Dort merkte ich, dass der soziale Zusammenhalt, sogar in Slums, noch sehr stark ist. Es war ein zentrales Argument von E.F. Schumacher, dem Autor von „Small is Beautiful“, dass wir die gewachsenen Strukturen menschlichen Zusammenlebens nicht zerstören dürfen, wenn wir mit technischem Fortschritt die Einkommen erhöhen.

Die Frage zielt eher darauf ab, ob wir aus dem Vielen, was wir haben, genug machen?

Prof. Günter Faltin: Wir machen nicht genug daraus, weil wir zu sehr auf den Konsum sehen und dabei am Glück sozusagen weit vorbei springen. Wir haben verlernt darauf zu achten, was wir wirklich brauchen, bewegen uns zu wenig und erleben beinahe eine „Verhausschweinung des Menschen“, um es mit Mathias Horx‘ (Zukunftsforscher und Publizist) Worten zu sagen. Die Lebendigkeit, geglücktes Leben und der Feinsinn bleiben auf der Strecke. Sinnvolle Beschäftigung, das Gefühl der Geborgenheit und der Teilhabe machen uns glücklicher.

Samir Roshandel: Ich frage mich, wie Gemeinschaft zustande kommt im Hinblick auf Gesellschaft? Ich sehe es differenziert, Gesellschaft und Individuum, beides ist nicht gleichbedeutend mit Gemeinschaft. In der Gemeinschaft steht einer für den anderen ein. Der Nachbar ist wichtig, wird als Freund gesehen, denn es ist relativ realistisch, dass man einander brauchen wird. Meine familiären Wurzeln stammen aus Afghanistan, aus Kabul. Dort konnte ich das beobachten: Wenn Menschen aufeinander angewiesen sind, wird der Zusammenhalt gestärkt, die Gemeinschaft wächst und die Zufriedenheit auch. In Deutschland hingegen wird vieles auf das Individuum bezogen.

Prof. Faltin: Sehr interessant, das beobachte ich auch. In Deutschland wird mit dem Nachbarn hingegen über Kleinigkeiten gestritten. In anderen Ländern ist die Gemeinschaft noch besser intakt. Deshalb macht es auch bei uns mehr Sinn, die Strukturen der Gemeinschaft zu verbessern.

Samir Roshandel: Eine Ursache ist sicherlich Social Media. Meines Erachtens führt das dazu, dass sich Gemeinschaften auflösen und noch weniger Kontakt miteinander haben — ein Unglück. Mit der Digitalisierung trägt Social Media dazu bei, dass sich die Gesellschaft immer mehr voneinander entfernt.

Prof. Günter Faltin: Ja, eine künstliche Welt, die eine künstliche Vorstellung von Gemeinschaft betrifft – sie ist nicht echt und schafft wohl nicht mehr Glück und Zufriedenheit. Ingenieurskunst schafft das übrigens auch nicht – wenn ich das einmal sagen darf.

Was leisten der Social Startup Day?

Samir Roshandel: Soziale Innovationen nehmen zu und werden zum immer wichtigeren Bestandteil des Startup-Ökosystems. Welchen Mehrwert sie für die Gesellschaft darstellen, wollen wir auf dem Social Startup Day herausstellen. Darüber wollen wir sprechen und auch über die Rolle von Glück in unserer Gesellschaft. Dazu haben wir Glücksforscher Prof. Dr. Mike Hoffmeister eingeladen.  Daraus ergibt sich für Niedersachsen die Frage nach der kommenden Startup-Kultur, die wir gemeinsam entwickeln wollen. Über den Social Startup Day wollen wir sichtbar machen, was ist und was kommt. Wir setzen Impulse und diskutieren gemeinsam – auch mit Prof. Günter Faltin.

Prof. Günter Faltin: Der Social Startup Day ist ein wichtiger Bestandteil der Entrepreneurship Kultur, um wertebasierte Gründungen auch in Niedersachsen sichtbar zu machen. Diese andere Art von Unternehmertum schafft mit neuen Ideen von Gemeinschaft zufriedenere Gesellschaften statt sie auseinanderzureißen. Darum wird es auf der Veranstaltung sicher auch gehen. Der Weg dorthin führt über soziale Innovationskraft, über die Wiederversöhnung mit der Natur und dazu gehört auch eine intakte Gemeinschaft. Das ist der richtige Dreiklang. Aktiv für die Gemeinschaft da zu sein, ist auch sinnstiftende, befriedigende Beschäftigung.

Samir Roshandel: Ich frage mich, was müssen wir tun, um eine Startup-Kultur zu schaffen, die die Gesellschaft glücklich macht?

Prof. Faltin: Das Stichwort heißt „wertebasiert“. Wir müssen es schaffen, die Kultur des „Immer mehr“ zu mindern und stattdessen eine wertebasierte Startup Kultur fördern. Es ist immer noch nicht angekommen, dass das bedeutet, vom Wachstumsdenken alter Couleur wegzukommen. Da ist Social Entrepreneurship angesagt.

Samir Roshandel: Deutschland 2030 – was müssen wir tun, um das Land in dieser Richtung zu gestalten?

Prof. Günter Faltin: Nicht nur auf den Mainstream hören, sondern auf Menschen, die nach Alternativen suchen. Die sollten wir bemerken und fördern. Die Universitäten und Bildungsstätten müssen Szenarien von Zukunft erahnen, denken und diskutieren. Das erwarte ich von Lehranstalten – statt strikt nur ein „Fach“ zu vermitteln. Also das große Ganze in den Blick zu nehmen. Zukunft wird gemacht. Wege entstehen, indem man sie geht.

Haben Sie ein Beispiel für ein erfolgreiches Startup in dieser Richtung?

Prof. Günter Faltin: Das Erfolgreichste, das ich kenne, ist aus einer Bürgerintervention in den 1960er Jahren entstanden: Die Anwohner einer Straße fuhren alle ihre Autos zu einem verabredeten Zeitpunkt aus der Straße raus, um sinnlich erfahrbar zu machen, wie liebenswert und lebendig eine autofreie Straße sein kann. Es wurde ein Anstoß zu einem weltweiten Erfolg. Er heißt: Fußgängerzone. Das war Social Entrepreneurship „at it’s best“. Das Beispiel zeigt, was möglich ist, durch Aktionen und Veranstaltungen von Menschen für Menschen, die Zukunft zu denken.

Danke für das Gespräch!