Auf der TECHTIDE Messe in Hannover lief im September 2022 die Diskussion „Unternehmerisches Denken und Handeln durch Potenzialentfaltung“. Schwerpunkt der Diskussion war die Frage, wie sich unser Bildungssystem verändern muss, damit Kinder und Jugendliche sich besser entfalten können. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung, dass es nicht so wie bisher weitergehen kann. Stefan Muhle, ehemaliger Staatssekretär für Digitalisierung, brachte es auf den Punkt: „Im Prinzip will keiner das Bildungssystem so, wie es jetzt ist, haben.“ Dieser Meinung schlossen sich auch der Neurobiologe und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung, Prof. Dr. Gerald Hüther und die Geschäftsführerin von Schule im Aufbruch, Margret Rasfeld, an. 

Sie forderten Lehrkonzepte, die mehr Freiräume geben, um zu gestalten und reale Probleme zu lösen. Moderator Prof. Dr. Mike Hoffmeister von der Ostfalia Hochschule erweiterte diesen Gedanken noch um den Aspekt, dass Freiräume auch zu Hause benötigt werden, damit Kinder nicht Abbilder der Interessen ihrer Eltern werden. Samir Roshandel, Themenmanager für Entrepreneurship Education bei startup.niedersachsen bekräftigte dies mit der Forderung nach individueller Förderung, sodass persönliche Stärken weiterentwickelt werden können und niemand zurückgelassen wird.

Im Anschluss an das Event bekam startup.niedersachsen die Möglichkeit in einem Interview sowohl Frau Rasfeld als auch Herrn Prof. Dr. Hüther noch genauer nach ihrer Meinung über Potenzialentfaltung und Gründung zu befragen.

Frau Rasfeld, wie schafft man es, Jugendlichen Mut zu geben, zu gründen? Wie schafft man es, auch Introvertierte oder Schüchterne zu überzeugen?

Margret Rasfeld: Mut wächst mit der Größe der Herausforderung. Wenn Jugendliche genügend Selbstvertrauen und Erfahrung haben, schaffen sie es auch, eine Gründung zu bewältigen. Um das Selbstvertrauen und die Erfahrung zu erwerben, gibt es an einigen Schulen das Fach „Herausforderungen“, bei dem sich die Schüler*innen selbstständig einer Herausforderung stellen und diese dann selbst meistern. In diesem Rahmen lernen sie dann auch grundsätzliche Kompetenzen wie schöpferisches Denken, autonomes Arbeiten, Umgang mit Scheitern und Leben außerhalb der Komfortzone, die auch fürs Gründen wichtig sind.

Das heißt, die Schüler*innen können ihre Herausforderungen frei wählen?

Margret Rasfeld: Richtig, an den besagten Schulen können sie mit voller Leidenschaft dabei sein und sich freuen, etwas Neues zu lernen.

Und alle anderen? Schüler*innen, die nicht diese Möglichkeit bekommen haben, verlassen die Schule doch oft orientierungslos und lernverdrossen, wie kann bei denen die Lernfreude erhalten bleiben?

Margret Rasfeld: Es gibt zwei Grundbedürfnisse des Menschen. Das eine heißt Autonomie, also Partizipation, Mitbestimmung, Nachgehen eigener Fragen. Dafür braucht es große Freiräume in der Schule. Das zweite Bedürfnis lautet Verbundenheit. Allerdings unterdrückt die „alte“ Schule beide Bedürfnisse radikal, durch Noten wird die Verbundenheit zerschnitten und durch das kleinschrittige Arbeiten und die „Du-Sollst-Haltung“ werden die Lernfreude sowie die Autonomie genommen. Schule braucht eigentlich Freiräume, projektbasiertes und fächerübergreifendes Lernen, Rücksicht auf die Interessen der Kinder und Mitgestaltung. Im Prinzip müssen wir alles radikal umkrempeln und von einer Belehrungskultur auf eine Begleiterkultur wechseln.

Durch die neugewonnenen Freiräume und Autonomie kommt Entrepreneurship dann von ganz alleine oder müsste Entrepreneurship noch besser in der Schule integriert werden?

Margret Rasfeld: Momentan ist es so, dass nur einige wenige, wenn überhaupt, in der Schule mit Entrepreneurship in Kontakt kommen, beispielsweise im Wahlpflichtbereich. Die anderen haben dann solche Erfahrungen nicht. Und deswegen brauchen wir den Freiraum für alle, wie den „FREI DAY“, wo alle entwickeln können, unterstützt werden können, sich Leute reinholen können und die Gelegenheit haben, wenn sie denn wollen, zu gründen. Am FREI DAY finden alle Lösungen für die Probleme unserer Zeit und das ist Entrepreneurship pur. Ich verweise hier gerne auf Günter Faltin, der gesagt hat, dass jeder ein Entrepreneur ist und in seinem Umfeld was bewegen kann. Ich sehe modernes Entrepreneurship nicht als Mittel zu schnellem Reichtum mit Dingen, die keiner braucht, sondern als Möglichkeit, unsere sozialen und ökologischen Probleme zu lösen. Es gibt einige, die denken: „Schnell mal ein Startup gründen und dann viel Geld von Investoren einsammeln und dann sind wir reich“. Allerdings stehen die dann auch wahnsinnig unter Druck.

Also sind Investor*innen mit Vorsicht zu genießen?

Margret Rasfeld: Ja, ansonsten steht man nur unnötig unter Druck. Günter Faltin rät davon mit der Aussage ab: „Kopf schlägt Kapital“. Beziehungsweise sollte man nur in Maßen Kapital aufnehmen und keine 500 Millionen.

Mit dem FREI DAY von Schule im Aufbruch haben Sie ein Format gefunden, was in den Schulen auf großen Anklang stößt, weil es den Schüler*innen an einem Tag in der Woche die Möglichkeit gibt, selbst zu gestalten und den eigenen Interessen nachzugehen. Wie würde Ihrer Meinung nach das ideale Schulkonzept aussehen?

Margret Rasfeld: Schule im Aufbruch hat mehrere Bausteine, die lange erprobt und evaluiert sind. Basics, die man braucht, kann man sich selbstorganisiert beibringen. Anstatt regelmäßiger Tests schaut man, ob man es verstanden hat und testet sich selbst. Zusätzlich erhält man keine Noten, sondern nur Feedback. Dadurch werden die Lehrenden von Belehrer*innen zu Begleiter*innen. Dann würde es andere Fächer geben wie „Herausforderungen“, „Verantwortung“, „FREI DAY“ und „Lernen im Leben“. Wichtig ist auch, dass die vermittelten Kompetenzen nicht lehrendenabhängig sind, sondern strukturell verankert und für jeden zugänglich. Und als großes Ethos darüber: Wie können wir als Schule ein Teil der großen Transformation werden, die sich in den 17 Nachhaltigkeitszielen versteckt?

Herr Hüther, Sie haben in der Diskussion davon gesprochen, dass sich die Jugendlichen „verwickeln“. Was bedeutet „verwickeln“ konkret und wie befreie ich mich aus meiner „Verwicklung“?

Gerald Hüther: Früher ging man davon aus, dass es genetisch vorgegeben war, wie sich unser Gehirn entwickelt. Mittlerweile geht man aber davon aus, dass die genetischen Vorgaben nur Möglichkeiten darstellen und dass es stattdessen auf die konkreten Erfahrungen ankommt, die man so macht. Wir „programmieren“ uns und unser Gehirn also im Laufe unseres Lebens selbst. Das, was sich das Gehirn merkt und was dort in Form von Vernetzungen verfestigt wird, sind allerdings nicht die Probleme, sondern die Lösungen, die wir finden. Begegnen wir einem Problem aber immer mit derselben Lösung, dann haben wir uns quasi verwickelt. Beispielsweise, wenn wir versuchen, immer alles ordentlich und strukturiert zu halten, verpassen wir die Möglichkeiten, die sich durch das Chaos und die Unvorhersehbarkeit des Lebens bieten. Verwicklungen sind also quasi festverankerte Haltungen, die sich mehr oder weniger bewährt haben, jedoch auch gleichzeitig alles Abweichende erst einmal abblocken. Dieser Problematik begegnet man, indem die Eltern ihren Kindern vermitteln, dass sie, so wie sie sind, genug sind, geliebt werden und sie ihren persönlichen Bedürfnissen nachgehen lässt. Im Prinzip müssten wir den Kindern viel mehr und vielfältigere Probleme anbieten.

Ist man erst einmal verwickelt, ist es verdammt schwierig, sich davon zu befreien, weil diese Haltungen natürlich zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit geworden sind. Eigentlich passiert das nur, wenn man entweder komplett scheitert oder eine seltene „Sternstunde“ hat und sein inneres Kind und seine verlorene Entdeckerfreude wiederentdeckt.

Wir haben Ihre Kollegin Frau Rasfeld schon nach der Bedeutung von Lernfreude gefragt. Wie sehen Sie das? Kann der Erhalt der Lernfreude dazu führen, dass wir uns weniger verwickeln?

Gerald Hüther: Wenn wir klein sind, sind wir voller Tatendrang und Lernfreude und irgendwann kommt dann der Moment, wo unsere Lernfreude nicht mehr auf offene Ohren stößt. Als Konsequenz sind wir stark frustriert und unterdrücken sie. Und darauf baut dann unser Schulsystem auf. Wenn wir es schaffen würden, die Lernfreude zu erhalten, sähe das natürlich ganz anders aus. Deshalb müssen wir uns fragen, ob wir das mit unserem Schulsystem weiter so machen wollen, weil dann ist mit Entrepreneurship auch nichts.

Um jetzt noch mal den Bogen zu Entrepreneurship zu schlagen, glauben Sie, wenn es mehr Freiräume in der Schule für die eigenen Interessen gibt, dass dann von ganz alleine kommt?

Geralt Hüther: Ich habe in letzter Zeit mit vielen Erwachsenen gesprochen und viele haben mir gesagt, dass das wichtigste Bedürfnis, was sie nicht mehr befriedigen können, ihre Gestaltungsfreiheit ist. Dann hab ich sie gefragt, wann denn das erste Mal war, dass sie diese unterdrücken mussten. Überraschenderweise war die Antwort nicht „in der Schule“, sondern „im Elternhaus“. Das heißt, die Kinder kommen schon verwickelt in der Schule an, und deswegen kann die Schule auch so weitermachen. Wir haben also kein Schulproblem, sondern ein Elternproblem, was gewissermaßen gesellschaftlich verankert ist und von den Medien auch weiter angeheizt wird. Würden die Eltern ihren Kindern ihre Entdecker- und Gestaltungsfreude nicht abtrainieren, würde Entrepreneurship wahrscheinlich von alleine kommen.

Und wie geht man dann als Eltern damit um, wenn man von Lehrkräften gesagt bekommt, in der Schule läuft es nicht?

Geralt Hüther: Die Schule in der Bedeutung soweit runterschrauben, wie es nur geht. Das ist kein wichtiger Lebensmittelpunkt. Die Schule hat sich aufgeblasen wie ein Elefant und wir täten uns gut daran, bei diesem Elefanten wieder etwas Luft abzulassen.

Sie sind auch Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung, wie entdecke ich denn mein eigenes Potenzial?

Geralt Hüther: Du kannst dein Potenzial gar nicht entdecken. Das Potenzial ist etwas, dass in dir als Möglichkeit angelegt ist. Das, was du entdecken kannst, ist also quasi das, was sich da in dir entfalten möchte.

Vielen Dank für das Gespräch!