Die zweite Auflage des Life Science Start-up Day wurde erneut zur Premiere, denn in diesem Jahr fand die Konferenz komplett online statt. Gewohnt vielseitig zeigte sich das Programm, unter anderem mit Nobelpreisträger Prof. Stefan Hell, Niedersachsens Wirtschaftsminister Dr. Bernd Althusmann und zahlreichen Start-ups, die ihre Projekte präsentierten. Mit mehr als 500 Online-Gästen war die Startup-Konferenz erneut ein Erfolg.
Eine Konferenz mit zahlreichen Speaker*innen und hunderten Gästen komplett online stattfinden zu lassen, daran hat man sich in den aktuellen Pandemiezeiten längst gewöhnt. Für den Life Science Start-up Day 2021 hatte die veranstaltende Life Science Factory aus Göttingen gemeinsam mit ihren Partnern startup.niedersachsen und BioRegioN sowie ottobock und Sartorius allerdings eine ganz besondere Konferenzumgebung geschaffen. So konnten sich die Teilnehmer*innen vom heimischen Rechner aus auf einer virtuellen Messeumgebung bewegen und sich nach Lust und Laune durch Lobby, Bühne und Ausstellungsraum mit zahlreichen Ständen klicken.
Die Begrüßung übernahmen erneut Marco Janezic von der Life Science Factory und Niedersachsens Digitalstaatssekretär Stefan Muhle. Janezic betonte die besonderen Zeiten, beschrieb jedoch vor allem die Vorteile der Virtualität, wodurch Gäste und Vortragende aus ganz Deutschland begrüßt werden könnten.
Bezogen auf die Pandemie verbreitete Muhle ebenfalls Optimismus. „So schlecht ist es gar nicht mit der Digitalisierung in Deutschland“, sagte er. Um es wirtschaftlich mit den großen Plattformen dieser Welt aufnehmen zu können, müsse das ganze Land allerdings in einen Start-up-Modus versetzt werden. Es brauche mehr Vertrauen in junge Unternehmen. Wie viel Potenzial in diesem Land stecke, habe sich bei der Entwicklung eines Coronaimpfstoffs gezeigt. „Wenn wir wollen, dass es schnell geht, dann geht es.“
Hell: Frühzeitig Kontakte zu Unternehmen aufbauen
Nach dieser Einleitung führte Janezic ein Gespräch mit Prof. Stefan Hell vom Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Der Nobelpreisträger von 2014 schilderte seinen Weg vom Forscher zum Unternehmer sowie die Anfangszeit seiner Firma Abberior, die hochauflösende Mikroskope produziert. Künftigen Gründer*innen riet er, bereits frühzeitig Kontakte zu Unternehmen aufzubauen und stets ein Auge auf den Markt zu haben. „Wir haben nur Dinge gebaut, von denen wir wussten, dass sie gebraucht werden“, sagte er.
Außerdem sei es wichtig, ein interdisziplinäres Team um sich zu haben, mit motivierten Menschen, die einem bekannt sind. So habe er es geschafft, ohne Fremdkapital auszukommen und trotzdem eine „fulminante Wachstumsstory“ hinzulegen.
Prof. Stefan Dübel von der TU Braunschweig referierte anschließend über seine zahlreichen Ausgründungen, darunter Abcalis (Entwicklung tierblutfreier Antikörper), Norden Vaccines (Impfstoff gegen Zecken) und CORAT (Corona Antibody Team). Seine Tipps für Gründer*innen: Geduld haben, groß denken und das beste Team suchen. Außerdem sei es ratsam, flexibel auf den Markt zu reagieren. Die Wahrscheinlichkeit sei groß, dass der Businessplan bereits im ersten Jahr komplett umgeschmissen werde. Aber: „Denken Sie nicht so viel nach, fangen Sie einfach an.“
Als Herzstück der Konferenz stellten mehrere Start-ups ihre innovativen Projekte vor. Den ersten Pitch gestaltete Livstem (Leberstammzellenforschung, Medizinische Hochschule Hannover) gefolgt von VineForecast (Prognosesystem für Krankheiten beim Weinanbau, Göttingen) und Silent HighTech Solutions (individuelles Informationsmanagementsystem SOTOS für OP-Säle, Universitätsmedizin Göttingen). In der zweiten Hälfte folgten Pitches von Herodikos (App für individuelle medizinische Bewegungstherapie, Varel) sowie sensAI (System zur Vermeidung von Medikationsfehlern, Göttingen) und TIOLI (App für Menschen mit Lebensmittelunverträglichkeiten, Braunschweig).
Gelungen: virtuelles Messegelände
Zwischendurch wurden alle Gäste des Life Science Start-up Days, inzwischen mehr als 500, ermuntert, die virtuelle Ausstellungsfläche zu besuchen. Insgesamt hatten 19 Unternehmen einen digitalen Messestand errichtet, darunter alle Start-ups aus den Pitches, Unterstützer wie die NBank, der SNIC Life Science Accelerator und die Gründungsförderung der Universität Göttingen und der Universitätsmedizin Göttingen sowie zahlreiche Partner wie startup.niedersachsen und BioRegioN. Es standen Infos und Flyer zur Verfügung und über eine Chat-Funktion konnten Gespräche geführt und Kontakte geknüpft werden.
Live aus Duderstadt wurde am Nachmittag Philipp Schulte-Noelle zugeschaltet, CEO von Mitveranstalter ottobock. Er gab einen Einblick in die Digitalisierung seines Orthopädie-Unternehmens, die mittlerweile „gelebte Normalität“ geworden sei. Mithilfe von Scans und der 3D-Drucktechnik könne den Kund*innen heute viel individueller geholfen werden. Ein weiteres Ziel sei, durch die Digitalisierung neue junge Talente und damit Nachwuchs für die Branche zu gewinnen.
In einem Dialog unterhielten sich anschließend Dr. Joachim Kreuzburg, CEO von Mitveranstalter Sartorius, und Prof. Wolfgang Brück von der Universitätsmedizin Göttingen. Beide setzten sich für bessere Ausgründungsvoraussetzungen an den Universitäten ein. Brück zeigte sich unzufrieden mit der aktuellen Situation. Es gebe zu wenig Ausgründungsprozesse. Neben Forschung und Lehre müsse das Gründen als weitere Säule an der Universität etabliert werden. Es brauche eine klare Anlaufstelle für Ideen und die Anbahnung von Ausgründungen.
Göttingen sei ein toller Standort, doch er schlage sich unterhalb seines Potenzials, sagte Kreuzburg. Er plädierte für mehr flexible Laborflächen und mehr Risikokapital. Nicht das Mindset der Forscher, sondern die Prozesse an sich müssten sich ändern. „Göttingen muss sich nicht verstecken und kann ein führendes Life-Science-Ökosystem in Deutschland und Europa werden.“
Althusmann: „Jetzt digitale Biotech-Gründerzeit starten!“
Niedersachsens Wirtschaftsminister Dr. Bernd Althusmann sprach im Anschluss über den aktuellen Zustand des Start-up-Standortes Niedersachsen und die kürzlich verabschiedete Start-up-Strategie. Corona habe an vielen Stellen Schwächen bei der Digitalisierung offenbart. Etablierte Unternehmen seien herausgefordert, während sich die Start-ups innovativ zeigten. Niedersachsen stehe aktuell auf einem starken Fundament aus 380 Start-ups.
Mit der Start-up-Strategie sollen die Gründungen im Land weiter vorangebracht werden. Vor allem die Life-Science-Start-ups seien die innovativsten Treiber und die Hoffnungsträger im Land. Aber auch weibliches Potenzial müsse stärker ausgeschöpft werden. „Die Chancen für Frauen sind mir ein persönliches Anliegen“, sagte Althusmann. Und an die gesamte Start-up-Szene gerichtet: „Sie sind die Pioniere von Zukunftstechnologien. Lassen Sie uns jetzt die digitale Biotech-Gründerzeit starten!“
Den Abschluss des Life Science Startup Days 2021 bildete eine Podiumsdiskussion mit zugeschalteten Gästen aus ganz Niedersachsen. Neben Moderatorin Magdalena Kempa nahmen Prof. Stefanie Heiden von der Leibniz Universität Hannover, Dr. Laila Al-Halabi-Frenzel von der Braunschweiger Abcalis GmbH, Dr. Jens Gruber von der Curexsys GmbH aus Göttingen sowie Philip Mertes vom Start-up Göttingen e.V. in der virtuellen Talkrunde Platz.
Erneut kam die Frage: Wie schaffen wir mehr Ausgründungen? Neben der Wissenschaftskultur brauche es an den Unis auch mehr Unternehmenskultur, sagte Heiden. Sie forderte mehr Offenheit und brachte ebenfalls spezielle Gründungsstellen an Universitäten ins Spiel. Al-Halabi-Frenzel bemängelte, dass die Themen Selbstständigkeit und Gründen in Deutschland nicht so selbstverständlich seien wie in anderen Ländern.
Doch wie könne man sich im Team überhaupt so lange motivieren, bis sich erste Erfolge zeigten? Hier sei ein vielschichtiges Team wichtig, dass alle Bereiche, sowohl wissenschaftliche als auch verwaltungstechnische, abdecke, so Gruber. Das gemeinsame Lösen von Problemen könne ein Team auch motivieren, fügte Mertes hinzu.
„Frauen im Vorstand sind bereichernd“
Und wie bekommen wir nun mehr Frauen in Forschung und Gründung? Gruber bedauerte, dass der Wissenschaft durch zu wenig forschende Frauen ein gewaltiges Potenzial verloren ginge. Alles sei möglich, aber die Männer müssten mitmachen. Mertes verwies auf Studien, wonach Teams mit einem hohen Frauenanteil erfolgreicher seien, als andere. Heiden schlug vor, Businessakademien nur für Frauen einzurichten. „Es muss normal werden, dass Frauen auch jede Position besetzen können. Frauen im Vorstand sind bereichernd.“
Mehr Mut – zu neuen Ideen, zum Gründen, zu mehr Frauen. Dieses Fazit stand am Ende des Life Science Start-up Days 2021. Maike Rochon vom Mitveranstalter BioRegioN zeigte sich in der offiziellen Verabschiedung mehr als zufrieden. „Es war ein toller Tag. Die Resonanz hat all unsere Erwartungen übertroffen!“ Am Ende stand der Wunsch aller, sich beim nächsten Mal wieder persönlich treffen zu können.