Als Mitte März aufgrund der Corona-Pandemie plötzlich die Schulen schlossen, waren insbesondere die Abiturient*innen stark verunsichert. Lange gab es keine Klarheit darüber, ob die Abiturprüfungen überhaupt stattfinden können – und wie eine Prüfungsvorbereitung ohne richtigen Unterricht aussehen soll. Innerhalb kürzester Zeit gründete sich eine Initiative, um digitale Unterstützung anzubieten: die Bildungshelden. Wir haben uns mit Mitgründer Samir Roshandel über das Social Innovation Startup unterhalten.

Schon lange sucht Samir Roshandel nach einer Möglichkeit denjenigen zu helfen, die im deutschen Schulsystem nur wenig Unterstützung bekommen. Im Alter von zwölf Jahren floh er mit seiner Familie aus Afghanistan nach Deutschland, wohnte in einer hessischen Flüchtlingsunterkunft, in der sich fünf bis sechs Personen ein Zimmer teilten. Er verstand kein Deutsch, konnte weder lesen noch schreiben, auf dem Dorf wurden kaum Sprachkurse angeboten. „Ich habe von der Lehrerin ein Malbuch bekommen und den ganzen Tag den Buchstaben ‚a‘ gemalt. Am nächsten Tag war das große ‚A‘ dran“, erzählt Samir mit einem Lächeln im Gesicht. Die Lehrerin war überfordert mit ihm, doch ihr macht er keinen Vorwurf. Das Problem sieht er im Bildungssystem, das nur schwerfällig auf neue Herausforderungen reagieren kann. „Ich habe es geschafft, aber ich kenne viele, die es nicht geschafft haben“, sagt er heute. Nach Haupt- und Realschule machte Samir sein Abitur und begann im Alter von 19 Jahren in Paderborn Wirtschaftspädagogik zu studieren – immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, im Schulsystem etwas verändern zu wollen. Doch schon im Studium deutete sich an, was sich nach Studienabschluss als Lehrer an der Berufsschule bestätigen sollte: Hier würde er seine Ideen nicht umsetzen können. Um sich neu zu orientieren, machte Samir einen Master mit IT-Schwerpunkt, unter anderem in Kanada und Shanghai, wo er seine Abschlussarbeit zu deutschen Startups in China schrieb. Seit 2013 ist der heute 36-Jährige am Entrepreneurship HUB der TU Braunschweig und der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften als MBA-Programmmanager hauptverantwortlich für den MBA Studiengang Entrepreneurship & Innovation Management. „Es gibt nichts Schöneres, als Menschen dabei zu helfen, ihre Träume zu verwirklichen“, schwärmt er von seiner Arbeit – und es ist deutlich, dass auch er sich damit einen Traum erfüllt. „Ich kann viel geben, das sehe ich, und das gibt mir unglaublich viel zurück.“

„Der Bedarf war absolut da, wir mussten sehr schnell sein“

Als im März 2020 die pandemiebedingten Schulschließungen viele Abiturient*innen vor große Unsicherheiten stellten, sah Samir eine Möglichkeit, den Schüler*innen zu helfen. Das Ziel: möglichst schnell Onlinekurse zu schaffen, um den Abiturient*innen eine Vorbereitung auf die Prüfungen zu ermöglichen. Verstärkung erhielt er von Mahmoud Madani und Emre Cengiz, die das nötige Handwerk mitbrachten, um in kürzester Zeit eine professionelle Website aufzubauen. Die Nachfrage nach Mathematikkursen zur Abiturvorbereitung war unter den Abiturient*innen besonders groß. „Der Bedarf war absolut da, wir mussten sehr schnell sein, um die Vorbereitungszeit für die Abiturprüfung noch so gut es geht zu nutzen“, sagt Samir. Mahmut Madani, selbst studierter Qualitätsingenieur, stellte sich als Mathelehrer zur Verfügung, sodass sich Anfang April erste interessierte Abiturientinnen auf der neu entstandenen Website Bildungshelden für einen kostenlosen Mathematikintensivkurs anmelden konnten. „Wir haben null Euro in Werbung investiert, die Presse hat die positiven Neuigkeiten dankend aufgenommen und verbreitet“, stellt Samir rückblickend fest. Die umfangreichen, mehrtägigen Mathekurse wurden als Videokonferenzen angeboten, in denen die Schüler*innen mit Mahmoud Madani Matheabituraufgaben der letzten Jahre bearbeiten, ihr Wissen in Übungen testen und Rückfragen stellen konnten. „In den Mathekursen haben wir jeweils ungefähr zwanzig Abiturient*innen unterstützen können“, sagt Samir. In Summe decke das natürlich nicht im Geringsten den enormen Bedarf und man habe das Problem fehlender Abiturvorbereitungen auch nicht aus der Welt schaffen können. Trotzdem findet er: „Erfolg ist für den einen, wenn er tausend Schüler unterrichtet hat, für den anderen, wenn er einen einzigen Schüler unterstützen konnte.“ Außerdem steht Bildungshelden gerade erst am Anfang. Im nächsten Schritt soll aus der Initiative eine gemeinnützige Gesellschaft werden – und das Konzept geht weit über das Anbieten von Abiturvorbereitungskursen hinaus. „Es ist mir wichtig, dass alle Akteure im System Bildungshelden profitieren. Unser Ziel ist nicht Profitmaximierung. Der Gewinn soll darin bestehen, Menschen zu helfen“, stellt Samir klar.

Digitale Hilfe: Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter von Bildungshelden unterstützt Schüler*innen im Fach Volks- und Betriebswirtschaftslehre bei der Abiturvorbereitung. (Bild: Bildungshelden)

Bildungshelden – mehr als eine Nachhilfeplattform

Ein Blick auf das Konzept von Bildungshelden macht deutlich, dass das ganze System auf der Idee des gegenseitigen Profitierens aufbaut – und dass es nur wenig mit einer gewöhnlichen Nachhilfeplattform gemein hat: Weder sollen gute Noten hauptsächliches Ziel sein, noch richtet sich die Plattform alleine an Schüler*innen. Die Idee reicht viel weiter: „Hinter Bildungshelden steht die Frage, wie wir es organisieren können, dass Menschen neben der Schule oder dem Studium weitere Angebote erhalten, um ihre Kompetenzen auszubauen“, erklärt Samir. Der Kompetenzerwerb soll auf zwei Ebenen funktionieren – auf Ebene der Lernenden und der Lehrenden: „Absolventen oder wissenschaftliche Mitarbeiter unterrichten Studierende, die wiederum Abiturienten fachspezifisch unterrichten, diese helfen wiederum Schülern der Sekundarstufe eins und zwei“, führt Samir vor. Perspektivisch soll sich das System bis in die Grundschule fortsetzen. Auch für professionelles Coaching ist gesorgt: Die Lehrenden werden beim Unterrichten unterstützt, den Lernenden werden individuelle Berufsberatungen angeboten. „Bildungshelden soll auf den Stärken der Menschen aufbauen, ihnen Vorbilder aufzeigen und Visionen vermitteln“, sagt Samir. Dass sein eigenes Schicksal ihn bei der Idee stark motiviert hat, verschweigt er nicht: „Ich möchte Vorbild und Beispiel dafür sein, dass man vieles schaffen kann, auch wenn man einen schwierigen Start hatte.“

„Niedersachsen ist im Bereich Social Innovations wirklich gut aufgestellt“

Unterstützung finden Startups wie Bildungshelden unter anderem im Social Innovation Center in Hannover. In dem Projekt der Region Hannover können Gründungsinteressierte ihre Ideen im Bereich Social Entrepreneurship in Beratungen und Workshops weiterentwickeln und vom Know-how zahlreicher Projektpartner profitieren. Insbesondere die enge Zusammenarbeit mit bestehenden Unternehmen aus der Sozialwirtschaft eröffnet jungen Startups gute Vernetzungsmöglichkeiten. „Niedersachsen ist im Bereich Social Innovations wirklich gut aufgestellt, das zeigt sich auch im Social Innovation Center in Hannover“, sagt Samir, der vor Bildungshelden schon einige andere Startups gegründet hat. „Gründen hat sich in den letzten Jahren in Deutschland sehr zum Positiven entwickelt“, meint er. Nur gebe es trotz der guten Bedingungen noch zu wenige Menschen, die sich trauen würden. Vor diesem Hintergrund hat Samir zwei wichtige Ratschläge: „Wenn man eine Idee hat, sollte man sie ausprobieren. Bloß nicht zu viel theoretische Überlegungen anstellen, das hat schon die besten Ideen kaputt gemacht. Und: Mit anderen Menschen unbedingt über die Ideen sprechen! Dabei kann sich unglaublich viel ergeben. Die Stärke von Startups liegt im Austausch und der Kooperation.“ Auch bei Bildungshelden möchte er zukünftig stärker mit Schulen kooperieren, um die zurzeit noch ausschließlich digitalen Kurse – sobald möglich – als Veranstaltungen in verfügbaren Schulräumen stattfinden zu lassen. „Unser ganzes Projektmanagement läuft dezentral und digital. Wir sind zurzeit acht Mitarbeiter in fünf unterschiedlichen Städten, deshalb wird unsere Zusammenarbeit auch über die Corona-Krise hinaus digital stattfinden“, sagt Samir und fügt hinzu: „Aber natürlich freuen wir uns auch darauf, uns bald alle wieder zusammen in einer Bar zu treffen. In der jetzigen Situation muss man aber einfach das Beste aus allem machen.“ Denn das hat Samir immer schon so gemacht.

(Bild Header: Bildungshelden)